Die Juristenausbildung – Teil 1

In den Kommentaren zum letzten Beitrag hat and_iii mich gebeten doch allgemein etwas über das Jurastudium zu schreiben. Vielleicht ist es auch für den ein oder anderen Interessant der damit hadert ob er es beginnen soll oder nicht. Beim schreiben ist der Text aber etwas ausgeartet. Von daher unterteile ich den Beitrag in zwei Teile. Der erste Teil beschäftigt sich vor allem mit der Motivlage des Studium zu beginnen. Und es soll anhand von Beispiele aufzeigen, was der „Arbeitsteil“ und was der „wissenschaftliche Teil“ des Studiums ausmacht. Im zweiten Teil gehe ich dann darauf ein, was für Voraussetzungen man mitbringen soll, was meines Erachtens einen guten Juristen ausmacht und was einem das Studium im Alltag bringen kann.

Jetzt aber erst einmal zum Studium und der Motivation: Unter Jurastudenten und auch späteren Juristen ist die Meinung über das eigene Studienfach stark gespalten. Das geht von „bester Studiengang der Welt“ zu „würde ich nie wieder tun“. Das hängt vermutlich auch damit zusammen, dass man Jura aus unterschiedlichen Motivlagen betreiben kann.

Im Endeffekt besteht Jura aus drei Faktoren: Talent, Fleiß und Glück. Wenn zwei dieser Faktoren gegeben sind, wird man ohne große Probleme durch das Studium kommen. Wer Talent hat und fleißig lernt kann auch eine schwere Klausur bestehen. Wer Talent für das Fach hat und etwas Glück mit den Aufgaben, wird auch problemlos mit seinem Handwerkszeug ohne Lernen weit kommen. Wer ohne viel Talent für das Fach daherkommt, der kann mit Fleiß eine Menge erreichen und wenn glückliche Aufgaben dran kommen, wird auch er seine Erfolge haben. In einem Mathematik-Studium würde man dagegen nur mit Fleiß wohl nicht wirklich weit kommen.

Der Stoff an sich ist, bis auf wenige Ausnahmen, nicht schwer. Die primäre Schwierigkeit besteht aus der Vernetzung verschiedener Normen. Vielleicht hier ein recht simples Beispiel, was die „Hauptarbeit“ bei einem Juristen ausmacht:

„Verbraucher (V) kauft bei einem Händler (H) einen Flügel. Auf bitten des V soll der Flügel am nächsten Tag per Spedition geliefert werden. Beim Transport entführen Aliens den Flügel. V ist der Meinung der H schuldet ihm weiterhin den Flügel. Der H ist der Meinung es sei das Problem des V, dass der Flügel nicht ankam.“

Die Ausgangslage ist der Kaufvertrag. Nach § 433 I BGB wird der Verkäufer verpflichtet dem Käufer die Sache „zu übergeben und das Eigentum zu verschaffen“. Der § 446 BGB sagt konkret, dass mit der Übergabe die Gefahr des zufälligen Untergangs auf den Käufer übergeht. Wie fragen uns also, ob die Sache schon „übergeben“ wurde. Mit der „Übergabe“ ist die Verschaffung des Besitzes gemeint. In § 854 BGB steht dann „Der Besitz einer Sache wird durch die Erlangung der tatsächlichen Gewalt über die Sache erworben“. Das bedeutet, der V hat Pech gehabt, wenn er bereits Besitz erlangt hat. Er hatte hier aber nie tatsächliche Gewalt über den Flügel, denn der war ja nie in seiner Nähe. Demnach wurde der Flügel nie übergeben und V kann weiterhin den Flügel verlangen.

Es greift aber eine Ausnahme. In § 447 BGB steht nämlich „Versender der Verkäufer auf Verlangen des Käufers die verkaufte Sache […] so geht die Gefahr auf den Käufer über, sobald der Verkäufer die Sache dem Spediteur ausgeliefert hat“. Nach dem Wortlaut greift diese Ausnahme ein, denn der Händler hat auf verlangen des Käufers die Sache verschickt. Dann wäre es Pech für V und er bekommt keinen zweiten Flügel geliefert.

Von der Ausnahme finden wir aber wieder eine Ausnahme und zwar § 474 II BGB. Der Regelt, dass bei Verbrauchsgüterkäufen der § 447 nicht anzuwenden ist. Was ein Verbrauchsgüterkauf ist sagt und § 474 I BGB und zwar der Kauf von beweglichen Sachen durch einen Verbrauche von einem Unternehmer.

Damit regelt die Ausnahme von der Ausnahme, dass die Ausnahme nicht gilt. Der V kann sich somit freuen, denn als Verbraucher trägt er das Risiko nicht und es ist das Problem des Händlers, dass der Flügel nicht ankam.

Genau DAS ist ein Musterbeispiel was juristische „Arbeit“ ist und zwar handelt es sich hier um die reine „Rechtsanwendung“, wie sie auch in der späteren Praxis relevant ist.

Was genau muss hier nun „gelernt“ worden sein? Ganz ehrlich: Ich kannte die Normen (die sind aus dem 2. Semester) nicht mehr wirklich. Was wusste ich also? Wo der Kaufvertrag geregelt ist (§ 433 BGB) ist Standardwissen, da man die Norm  so ungefähr 10.000 Mal in seinem Studium lesen wird. Wirklich lernen musste man hier eigentlich zwei Sachen: Man muss die Basics des Schuldrechts können (Wer muss wo leisten) und man muss wissen, dass der Gesetzgeber den Verbraucher regelmäßig schützt. Im Optimalfall weiß man, dass es irgendwo so eine Norm gibt, die den Verbraucher vor dem Untergang der Sache schützt (und sucht sie dann) oder aber man hat einfach ein schlechtes Bauchgefühl mit dem Ergebnis und macht sich dadurch auf die Suche nach einer Sondervorschrift.

Das ist wie gesagt die juristische „Arbeit“. Den Gegenpool bildet der wissenschaftliche Teil. Dieser besteht primär aus Streitständen. Diesmal zwei kurze Beispiele aus dem Strafrecht:

„Die Pflegeschwester S kann das Leiden ihrer todkranken Patientin P nicht mehr ertragen. Sie drückt überraschend ein Kissen auf das Gesicht der wehrlosen P, bis diese verstirbt.“

„Liebhaber L springt völlig überraschend aus dem Gebüsch und ersticht den, ihm bis dato unbekannten, Ehemann E, um Frau F für sich alleine zu haben.“

Ein kurzer Exkurs um es besser zu verstehen: Wird ein Mensch vorsätzlich getötet ist grundsätzlich der Totschlag (§ 212 StGB) einschlägig. Das bedeutet Freiheitsstrafe zwischen 5 und 15 Jahren. Begeht dagegen jemand einen Mord gibt es grundsätzlich IMMER lebenslänglich. Wann es ein Mord ist bestimmt sich nach den in § 211 StGB aufgezählten Mordmerkmalen. Zum Beispiel wenn jemand aus Habgier tötet oder, für unser Beispiel relevant, heimtückisch. Wichtig ist nur: Es gibt keinen „Spielraum“ für den Richter bei Mord, die Strafe lautet lebenslänglich.

Heimtückisch bedeutet, dass die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers ausgenutzt wird. Das heißt also, dass das Opfer mit keinem Angriff rechnet und sich daher nicht wehren kann.

Beim ersten Beispiel, mit der Pflegeschwester, liegt es aber völlig auf der Hand, dass eine lebenslange Freiheitsstrafe (früheste Entlassung nach 15 Jahren) völlig unangemessen ist. Als der Gesetzgeber an den heimtückischen Mörder dachte, hat er sicher nicht an die Krankenschwester gedacht. Als Totschlägerin würde sie eher an den 5 Jahren Freiheitsstrafe (vielleicht sogar noch tiefer wegen einem minder schweren Fall) kratzen, statt am oberen Bereich.

Sie nutzt aber ganz offensichtlich die Arg- und Wehrlosigkeit der Patientin aus. Nach dem Wortlaut müsste sie daher als Mörderin bestraft werden. Die Juristen kennen grundsätzlich vier Auslegungsmethoden: Wortlaut, systematische (z.B. in welchem Abschnitt des Gesetzes findet sich die Norm), historische/genetische (was wollte der damalige Gesetzgeber und wie hat sich die Norm in den Jahren entwickelt) und teleologische (was ist Sinn und Zweck der Norm) Auslegung.

Der BGH hat hier nun gesagt, der Wortlaut spricht zwar für Mord, aber der damalige Gesetzgeber wollte sicher nicht eine Tötung aus Mitleid sanktionieren (genetische Auslegung). Darüber hinaus soll der Mord besonders verabscheuenswerte Taten verurteilen und nicht Tötung aus Mitleid (teleologische Auslegung). Daher sagt der BGH, dass man bei der Heimtücke „Hineinlesen“ muss, dass die Tötung mit „feindlicher Willensrichtung“ geschehen muss. Daher kommt der BGH hier zum Ergebnis, dass kein Mord vorliegt.

Beim zweiten Beispiel, dem Liebhaber, ist grundsätzlich auch wieder ein Mord aus Heimtücke zu bejahen. Hier sagt die Wissenschaft aber: Der Mord ist eines der schwersten Verbrechen im Strafrecht, daher müssen die Mordmerkmale sehr eng ausgelegt werden. Daher sagen einige Stimmen, dass die Tat in ihrer Gesamtwürdigung besonders verwerflich sein müsste. Eine andere Ansicht aus der Literatur verlangt für die Heimtücke dagegen, dass ein besonderer „Vertrauensmissbrauch“ vorliegen muss.

Für unser zweites Beispiel würde es heißen, die Wissenschaft würde zum Ergebnis kommen, dass kein Mord vorliegt. Entweder weil die Gesamtwürdigung nicht besonders verwerflich ist (kann man aber auch anders sehen… Ist Mord aus Liebe besonders verwerflich oder gerade nachvollziehbar?) oder weil es kein „Vertrauen“ zwischen E und L gab. Die Rechtsprechung hält davon nichts und würde L wegen Mordes verurteilen.

In einer Klausur oder Hausarbeit müsste der Jurastudent nun all diese Meinungen aufwerfen (man muss also gelernt haben, dass es bei der Heimtücke ein Problem gibt). Im Optimalfall weiß er noch, was die Ansichten im Großen und Ganzen sagen. Und danach muss er argumentieren: Was spricht für die eine Ansicht (z.B. dass der Mord eine Ausnahme bleiben soll und daher nur bei verwerflichen Taten angewandt werden soll) oder was spricht gegen die Ansicht (der Gesetzgeber schrieb nunmal nichts von einem „Vertrauensmissbrauch“). Am Ende muss man sich für eine Ansicht entscheiden, die der eigenen Meinung nach die besseren Argumente hat. Die Argumente muss man übrigens nicht auswendig lernen, im Optimalfall kann man sie sich selbst herleiten, anhand der typischen Auslegungsmethoden.

Das sind die zwei groben „Bereiche“ die einem im Studium erwarten. Das reine „abarbeiten“ der Norm und das logische Vernetzen des gelernten auf der einen Seite und das wissenschaftliche Auslegen von Normen auf der anderen Seite. Im zweiten Teil geht es dann um die konkrete Arbeitsbelastung im Studium und dessen Auswirkung auf den Alltag.

3 Gedanken zu „Die Juristenausbildung – Teil 1“

  1. Deine letzten Einträge waren richtig richtig interessant.
    Ich kenne hier auch ein paar Leute, die Jus (Rechtswissenschaften) studieren und mittlerweile auch fertig sind.
    Motivation braucht man hier während dem Studium gewaltig. Denn hier gibt es Jahresprüfungen, dass heisst es gibt sechs Prüfungen von einem Jahr innerhalb zwei Wochen. Dazu kommen noch eine Arbeit, die man auch innerhalb einer bestimmten Frist zu erledigen hat. DAS ist Arbeitsaufwand, den ich so nicht kenne. (zum Glück) Ich hatte auch mal sieben Prüfungen, die allerdings nur ein Semester ausmachten plus zwei Arbeiten innerhalb von drei Wochen.
    Dann nach dem Studium ist man ja noch nicht fertig mit lernen. Wenn man Anwalt werden will muss man eine Prüfung bestehend aus drei weiteren Unterprüfungen (mündlich und schriftlich) aus dem ganzen Studium ablegen. Hier lernen die meisten ein halbes Jahr vor der Prüfung und es kommen 40 % der Prüflinge beim ersten Versuch durch. Dann hat man alle drei Prüfungen bestanden, muss man zur mündlichen.
    Dazu muss man wissen, dass z. B. Luzern und Zug die Lösungen der vergangenen Jahre nicht herausgeben. So weiss man also während des Lernen nicht, ob man die Gesetzte richtig interpretiert und aufgefasst hat.
    So lernt man ununterbrochen 6 Jahre (3 BA, 2 MA, 1 Anwaltsprüfung). Vor der Anwaltsprüfung muss man ein Jahrespraktikum im gleichen Kanton machen, damit man zu dieser zugelassen wird. Es ist demnach nicht nur anstrengend und lern-intensiv, sondern dauert auch mega lange.

    Wer also Jus studiert hat meinen grössten Respekt. Egal ob das jetzt die Schweiz oder Deutschland ist.

    Antworten
  2. Hey Ara, vielen Dank für den ausführlichen Beitrag.
    So wunderbar illustrativ und nah am Alltag beschrieben habe ich das Ganze noch nirgendwo vorgefunden.
    Das klingt auf jeden Fall alles sehr spannend und es scheint mir jedenfalls so, dass das Studium nicht nur stures auswendig lernen beinhaltet (wie so oft behauptet), sondern es viel öfter auf fundierte Argumentationen und Abwägungen ankommt.
    Ich freue mich schon auf den zweiten Teil 😉

    Antworten
  3. Sehr interessanter Beitrag, Ara. Bin auch gerade dabei mein Abitur zu schreiben und spiele mit dem Gedanken, ab dem kommenden WS Rechtswissenschaften zu studieren. Deine Ausführungen waren dementsprechend wirklich aufschlussreich. Freue mich schon darauf, den zweiten Teil zu lesen.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar