Aus den USA kennt man Urteile die gerne mal auf 20 Mal Lebenslänglich oder 837 Jahre Freiheitsstrafe lauten. Dem deutschen Rechtssystem sind diese hohen Strafen fremd. Grundsätzlich ist die zeitliche Freiheitsstrafe, egal wie viele Taten abgeurteilt werden, auf 15 Jahre beschränkt. Auch die lebenslängliche Freiheitsstrafe kann nur einmal verhängt werden.
Im Fall Jenisa sieht es nun aber so aus, als würde der Angeklagte zweimal Lebenslänglich kassieren. Und dies möglicherweise für eine dumme Bagatellstraftat. Zweimal lebenslänglich für einen Ladendiebstahl? Wie kann das sein?
Der Angeklagte soll im Jahr 2007 die achtjährige Jenisa ermordet haben. Mit dieser Tat prahlte der Angeklagte wohl bei seinen Mitgefangen, denn er saß bereits wegen eines weiteren Kindsmords aus dem Jahr 2014 eine lebenslange Freiheitsstrafe ab. Das Landgericht Hannover hat den Angeklagten nun erneut zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
I.
Warum genau gab es ein zweites Mal lebenslänglich?
Unkompliziert ist der Fall, dass jemand eine Straftat begeht, dafür verurteilt wird und danach noch eine Straftat begeht. In diesen Fällen werden selbstverständlich zwei unabhängige Strafen verhängt. Denn er hat sich ja die erste Verurteilung nicht „als Warnung dienen lassen“.
Anders sieht es dagegen aus, wenn jemand mehrere Straftaten begeht und erst später erwischt wird. Eine „Warnung“ hat er so nie erhalten. Aus diesem Grund wird eine Gesamtstrafe gebildet. Die (nachträgliche) Gesamtstrafenbildung ist vermutlich das kompliziertes in der gesamten Strafzumessung. Ich werde versuchen es stark vereinfacht zu erklären:
Eine Person begeht innerhalb eines Jahres einen Diebstahl, einen Betrug und eine Körperverletzung. Wird er erst nach der letzten Tat erwischt, werden alle drei Taten gemeinsam abgeurteilt. Die drei Einzelstrafen, für jede Tat eine, werden nun aber nicht einfach addiert, sondern es wird eine einzige gemeinsame Strafe gebildet. Dazu wird die schwerste Strafe moderat angehoben (dabei darf aber nicht die Summe aller Einzelstrafen erreicht werden). Hat er also für den Diebstahl 6 Monate, für den Betrug 1 Jahr und für die Körperverletzung 2 Jahre Freiheitsstrafe bekommen, muss die Gesamtfreiheitsstrafe zwischen 2 Jahren und 1 Monat (Höchste Einzelstrafe (2 Jahre) erhöht um eine Strafeinheit (hier in Monatsschritten)) und 3 Jahre und 5 Monate (Es darf 6 Monate + 1 Jahr + 2 Jahre = 3 Jahre und 6 Monate nicht erreichen) liegen. Es könnte zum Beispiel zu 2 Jahren und 5 Monaten ausgeurteilt werden. Begründet wird dieses Vorgehen damit, dass der Verurteilte ja nicht zwischendurch mal durch ein Urteil „gewarnt“ wurde.
Kompliziert wird die Sache aber, wenn in unserem Beispiel der Betrug nicht bekannt wird. Dann wird lediglich der Diebstahl (6 Monate) und die Körperverletzung abgeurteilt (2 Jahre). Das könnten zum Beispiel 2 Jahre und 3 Monate sein. wird jedoch später noch der Betrug bekannt wäre es ja unfair, wenn jetzt eine komplett neue Strafe für den Betrug (1 Jahr) drauf kommt. Aus diesem Grund wird nachträglich eine komplett neue Gesamtstrafe gebildet und zwar so, als wäre bereits bei der ersten Verurteilung jede Straftat bekannt gewesen. Am Endes steht der Verurteilte also genau so dar, als wären zur ursprünglichen Verurteilung alle Taten schon bekannt gewesen.
Diese Möglichkeit existiert aber immer nur für Taten die VOR einer Verurteilung begangen wurden. Liegt zwischen zwei Taten eine Verurteilung, so verhindert diese Verurteilung eine Gesamtstrafenbildung, da ja mindestens eine Tat erst nach einer Verurteilung (die bereits eine „Warnfunktion“ für den Täter hatte) begangen wurde. Ein kurzes Beispiel: Im Jahr 2001 begeht jemand eine Körperverletzung. Im Jahr 2002 wird er wegen Diebstahls verurteilt, die Körperverletzung ist nicht bekannt. Im Jahr 2003 begeht er erneut eine Körperverletzung. Jetzt wird auch die Tat aus dem Jahr 2001 bekannt. Nun kann aus den Taten 2001 und 2003 keine Gesamtstrafe gebildet werden, weil dazwischen die Verurteilung von 2002 liegt. Es kann lediglich eine Gesamtstrafe aus 2001 und 2002 gebildet werden. Die Strafe für 2003 kommt oben drauf.
II.
Führt eine dumme Bagatelle zu mindestens 15 Jahre Haft?
Im Fall Jenisa liegt vermutlich genau diese Konstellation vor. Zwischen den beiden Morden wurde eine weitere Straftat abgeurteilt. Dies kann auch eine Bagatelle wie ein Ladendiebstahl gewesen sein (im Fall Jenisa ist nicht bekannt, welche Tat dazwischen abgeurteilt wurde). Wurde er dort dann zum Beispiel zu einer Geldstrafe von 500 Euro verurteilt, steht diese Verurteilung nun einer Gesamtstrafenbildung der beiden Morde im Weg. Denn der erste Mord ist lediglich mit dem Ladendiebstahl gesamtstrafenfähig. Der zweite Mord steht alleine daneben. Oder um es noch einmal anhand der Warnfunktion deutlich zu machen: Die Verurteilung des Ladendiebstahls hat den Verurteilten ja gewarnt keine weiteren Straftaten zu begehen, trotzdem hat er im Jahr 2014 ein Kind getötet.
Wäre er dagegen nicht wegen Ladendiebstahls verurteilt worden, wären tatsächlich beide Morde gesamtstrafenfähig gewesen, weil kein Urteil eine „Warnfunktion“ entwickeln konnte.
Was das konkret für den Verurteilten bedeutet? Wären beide Morde gesamtstrafenfähig gewesen, dann hätte er einmal lebenslänglich als Gesamtstrafe für beide Morde bekommen. Frühestens nach 15 Jahren wäre dann eine erstmalige Entlassung möglich gewesen. Im Durchschnitt erfolgt eine Freilassung für eine lebenslängliche Freiheitsstrafe nach etwa 22 Jahren (es sitzen jedoch einige auch bereits 40 Jahre oder länger ihre lebenslange Freiheitsstrafe ab, es erfolgt also keine automatische Entlassung).
Nun hat der Angeklagte jedoch eine lebenslange Freiheitsstrafe für die Tat 2014 bekommen und erneut eine lebenslange Freiheitsstrafe für die Tat 2007. Diese werden nun tatsächlich hintereinander vollstreckt. Das bedeutet, wenn irgendwann mal, sei es nach 15, 17, 22 oder 30 Jahren, die erste lebenslange Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird, wird direkt danach die zweite lebenslange Freiheitsstrafe vollstreckt. Er muss also erneut mindestens 15 Jahre im Gefängnis bleiben. Der früheste Zeitpunkt der Entlassung kann daher nach 30 Jahren erfolgen. Dies ist gesetzlich zwingend so vorgeschrieben. Abgewichen kann nur durch eine Begnadigung durch den niedersächsischen Ministerpräsidenten. Als zweifacher Kindsmörder hält sich die Gnadenfähigkeit aber natürlich in Grenzen.
Höchstwahrscheinlich wird der gute Mann, sofern die Verurteilung rechtskräftig wird, im Gefängnis sterben. Am Ende hat ihm tatsächlich eine mögliche Bagatelle für mindestens weitere 15 Jahre ins Gefängnis gebracht. Bei den meisten Menschen wird sich das Mitleid vermutlich in Grenzen halten, trotzdem kann sich der Angeklagte nun ärgern, dass er für einen möglichen Kleinkram weitere Jahrzehnte im Gefängnis verbringen muss. Auch wenn es natürlich nicht wirklich die zweimal Lebenslänglich für den Ladendiebstahl gab, so kann solch eine Bagatelle doch den Ausschlag für viele weitere Jahre hinter Gittern bringen.
Als Laie noch mal eine kleine Frage:
Diese „Warnfunktion“ bezieht sich aber nur auf strafrechtliche Belange, oder? Und unter diesen bezieht es sich auf alle? Also wäre in diesem Fall als Bagatelle auch eine Verurteilung wegen Urheberrechtsverletzung etc. (Kategorie Filesharing) möglich?
Im Übrigen, auch in Hinblick auf die SmH 53, finde ich solche Beiträge sehr gut und nicht unbedingt zu lang, denn jede Kürzung würde zu zu viel Informationsverlust führen und vor allem für Menschen ohne juristische Fachkenntnis (so wie ich einer bin), sind die Erklärungen sehr hilfreich!
Es muss ein strafrechtliches Urteil sein. Das heißt zivilrechtliche Ansprüche wie eine Abmahnung sind dafür beim Filesharing egal. Nur im Falle einer strafrechtlichen Verurteilung wegen Filesharings, was bei Privatpersonen eher selten vorkommt, wäre dies der Fall. Auch Ordnungswidrigkeiten wie zu schnell fahren entfalten keine Sperrwirkung.