Wie man sich selbst der Doppelmoral überführt

Gelegentlich schaffen es Menschen, dass sie sich mit ihren eigenen Argumenten die eigene Meinung zerschießen. Ein aktueller Fall zeigt es schön beispielhaft: Selbstjustiz eines Vater der jemanden auf frischer Tat beim Missbrauch seines Sohnes erwischt (Bild.de)

Geschichte in der Kurzversion: Vater kommt in den USA nach Hause und sieht einen Familienfreund beim Missbrauch seines Sohnes und verprügelt ihn bewusstlos. Anschließend ruft er die Polizei. Die Polizei nimmt den mutmaßlichen Kinderschänder fest und möchte nicht sehen, dass der Vater sich möglicherweise auch strafbar gemacht hat. In Deutschland wäre dies natürlich ein klassisches Fall der Selbstjustiz und wäre nur schwer (eher gar nicht) über das Notwehrrecht (bzw. Notwehrexzess) zu regeln. Von daher hätte der Vater hier mit einer Verurteilung rechnen müssen.

Darum gehts aber gar nicht. Bild.de hat die Kommentare unter den Artikeln deaktiviert, weil man weiß, was so für Sätze in der Regel kommen. Ich Poste hier einfach mal beispielhaft Kommentare aus Foren (Meist Elternforen, da größere Medien sowas löschen) zu ähnlichen Selbstjustizfällen:

Vielleicht hat das fehlende vertrauen in das Rechtssystem diese praxis mit hervorgerufen und stellt ein korrkektiv dar, welches auf diesem weg für die notwendige Abschreckung sorgt. (Gofeminin)

Das sind Menschen, die lassen ihrer Perversität freien lauf. Und Abschreckung hilft vielleicht.

Und meine Meinung gehört sicher nicht ins Mittelalter.  (Rund-ums-Baby)

Vielleicht kommt man selbst nicht direkt auf die Absurdität, wenn Selbstjustiz mit „Abschreckung“ gerechtfertigt wird. Dazu aber vielleicht Posts aus der gleichen Richtung, die es deutlich machen:

wenn jemand meiner kleinen Maus was antuhen würde würde ich auch selbstjustiz ergreifen, solche tüpen werden als krank abgestämpelt und haben dann voll den lenz! ohne mich, ich würd die alle platt machen! wenns um mein baby geht kenn ich da nichts! (Yahoo Answers)

Ich bin selbst Mutter, sollte meinem Sohn mal sowas passieren, würde ich auch nicht warten bis er seine Strafe vom Gericht erhalten hat. (Polar-Chat)

wenn einer meiner Tochter was antäte, würde ich auch Selbstjustiz üben!  (Finanzen.net)

dann möcht ich auch noch gleich anführen , dass es mir voll bewusst wäre, hier eine straftat zu begehen, aber ich könnte im häfen (gefängnis) sicher 5 jahre besser schlafen als einen tag zuhause.

das ist leider, leider, das traurige in unserer gesellschaft, sich auf keine gerechtigkeit mehr verlassen zu können (Finanzen.net)

Auch wenn es natürlich nicht die gleichen Personen waren, kann man doch davon ausgehen, dass sie sich alle gegenseitig zustimmen würden.

Genau hier zeigt sich das Paradoxon: Sie wollen (verbotene) Selbstjustiz üben (bis hin zum Totschlag/Mord), um eine „abschreckende Wirkung“ zu erzielen. Für Mord (auch Selbstjustiz) ist lebenslange Freiheitsstrafe vorgesehen, für den Totschlag (meinetwegen noch in einem minder schweren Fall) noch mindestens 1 Jahr Freiheitsstrafe. Wenn Abschreckung funktionieren würde, müssten dann nicht diejenigen, die die Selbstjustiz ankündigen, von den hohen Strafen davon abgeschreckt werden? Spätestens bei diesem Punkt müsste man sich doch fragen „wenn ich nicht abgeschreckt werde von hohen Strafen, warum sollte jemand anders dann abgeschreckt werden?“.

Ich weiß, bei den meisten der Kommentatoren wurde die Intelligenz mit der Gießkanne verteilt und sie werden es nicht verstehen, aber lustig ist es ja doch irgendwie.

Dazu übrigens noch eine spannende Frage zur Strafzumessung: Ist Selbstjustiz als strafmildernd oder strafschärfend anzusehen?

Auf dem ersten Blick würde man sagen „Ist doch klar, das muss strafmildern berücksichtigt werden, weil die Tat nachvollziehbar ist“. Tatsächlich kann man es so sehen (würde ich sogar auch tun).

Auf dem zweiten Blick muss man aber auch sagen: Aus generalpräventiver Sicht (Abschreckung anderer potentieller Täter und Stärkung der Allgemeinheit in das Vertrauen der Norm) müsste die Selbstjustiz starfschärfend wirken. Denn wenn Leute sagen „Ich würde es auch tun“ und man tatsächlich davon überzeugt ist, dass hohe Strafen abschreckend wirken (was ich nicht bin), müsste man hier eine Strafschärfung fordern. Zumindest aber um das Vertrauen der Allgemeinheit in die Norm (Du sollst nicht Töten, auch nicht aus Rache) zu stärken, müsste hier eine hohe Strafe folgen (dem würde ich sogar zustimmen).

Im Endeffekt ist es tatsächlich eine spannende und interessante Frage. Ich würde persönlich wirklich sagen, dass sich diese beiden Gedanken (strafmildernd da nachvollziehbar und strafschärfend um das Vertrauen der Allgemeinheit zu erfüllen) gegenseitig aufwiegen und es im Endeffekt weder strafmildernd noch strafschärfend zu berücksichtigen ist.

6 Gedanken zu „Wie man sich selbst der Doppelmoral überführt“

  1. Abschreckung hatten wir ja schon, man müsste überprüfen, inwiefern diese anders wirkt, wenn physische Misshandlung und nicht Gefängnis am anderen Ende steht.
    Kannst du menschlich mit keiner Faser nachempfinden, warum der Vater das gemacht hat und es vor sich rechtfertigen könnte?

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    • Doch klar. Schrieb ich ja auch im Text, dass ich das kann. Ich würde das Ganze ja auch strafmildernd berücksichtigen (was aber dann aufgefressen wird vom strafschärfenden Umstand, dass er absichtlich das Rechtssystem umgangen hat).

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  2. Wie genau ist denn Selbstjustiz im Strafgesetz geregelt? Denn prinzipiell dürfte es ja relativ schwierig sein, jemand zu unterstellen, dass es ein Vergehen im Sinne der Selbstjustiz war und nicht eine „zufällige“ Häufung. (À la: „Ich wusste nicht, dass er das gewesen sein soll, ich habe dem Typen einfach so etwas auf die Nase gegeben. – Zugegeben, das kauft derjenigen Person wohl kaum jemand ab, aber das Gegenteil muss erst einmal bewiesen sein.)
    Denn alleine daraus müsste sich ergeben, dass eine scheinbar aus Selbstjustiz motivierte Tat ebenso behandelt werden müsste, wie eine, der ein anderes Motiv zu Grunde liegt. (Natürlich nur im Rahmen)

    Selbstjustiz im Allgemeinen bedeutet eigentlich ja, dass die ausübende Person nicht mit dem Rechtssystem, welches sie umgibt, zufrieden ist. Und die Logik die solchen Leuten, die solche Kommentare verfassen, zu Grunde liegt ist eine, die meiner Meinung nach ebenso Euthanasie rechtfertigt. Bei diesem Thema sind sich glücklicherweise mittlerweile die meisten Menschen einig, dass es schwachsinnig (im wahrsten Sinne des Wortes) ist.

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    • Es gibt keinerlei speziellen Normen für die Selbstjustiz. Es werden also tatsächlich die normalen Strafrahmen angewandt. Man kann bei einem Tötungsdelikt halt, wenn der Richter es denn möchte, vom Totschlag (5-15 Jahre) auf einen minder schweren Totschlag (1-10 Jahre) kommen.

      Aber bei 5-15 oder 1-10 Jahre sieht man halt den massiven Strafrahmen den der Richter hat. Und hier zählt zum Beispiel auch die Absicht (gezieltes wissen und wollen um die Tat) strafschärfend die bei Selbstjustiz meist gegeben ist. Denn einen Totschlag kann ich ja auch quasi so erfüllen, dass ich sage „naja ist mir egal ob wer stirbt oder nicht“, was natürlich weniger Handlungsunwert ist, als wenn ich tatsächlich gezielt wen töten möchte.

      In der Praxis wird Selbstjustiz aber auch in Deutschland deutlich milder bestraft, als es rein von der Strafzumessungswissenschaft vermutlich sein müsste. Am Ende richten halt doch nur Menschen.

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        • Naja du weißt doch wie es heißt: „Als Jura Student müssen sie vorsichtig sein. Das juristische Wissen ist bei Ihnen noch nicht voll ausgeprägt, den gesunden Menschenverstand haben sie aber schon verlernt“… Am Ende wird man also wieder ein kompletter Mensch!

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