Das Bundesverfassungsgericht hat heute entschieden, dass die Bundeswehr unter strengen Anforderungen auch im Inland eingesetzt werden kann. Das wirklich beeindruckende am Urteil ist, dass der abweichende Richter fast eine genauso lange Begründung abgegeben hat, wie die bejahende 15 Richter (das besondere bei Urteilen des BVerfG ist, dass die überstimmte Partei ihre Gründe ebenfalls anführen darf, das ist bei anderen Gerichten nicht der Fall). Ich hab mir mal das Urteil genauer angeguckt und das wichtigste zusammengefasst:
Vorweg: Die immer wieder zu lesende Aussage „Das Grundgesetz verbietet den Einsatz der Bundeswehr im Inland“ ist in der Pauschalität quatsch. Das Grundgesetz sagt nämlich genau das Gegenteil, in Art. 87a II GG steht nämlich
“ Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt“.
Somit geht das Grundgesetz sehr wohl von der Möglichkeit des Einsatzes aus. Davon wird auch schon im übernächsten Absatz Gebrauch gemacht:
“ Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes kann die Bundesregierung […] Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer einsetzen.“
Beim Urteil vom BVerfG geht es aber um den Art. 35 II GG. Dieser wurde im Hinblick der Flutkatastrophe von Hamburg 1962 geschaffen. Dort steht zum Beispiel:
„Zur Hilfe bei einer Naturkatastrophe oder bei einem besonders schweren Unglücksfall kann ein Land Polizeikräfte anderer Länder, Kräfte und Einrichtungen anderer Verwaltungen sowie des Bundesgrenzschutzes und der Streitkräfte anfordern.“
Die Frage ist somit eigentlich gar nicht „ob“ man die Bundeswehr im Inland einsetzen kann, sondern „wie“ man sie einsetzen darf. Der Streitpunkt ist konkret: Darf die „Hilfe“ der Bundeswehr nur mit Mitteln erfolgen, die auch der Polizei theoretisch zur Verfügung steht oder darf die Bundeswehr auch militärische Mittel einsetzen? Die ältere Ansicht des BVerfG ging davon aus, dass nur Mittel genutzt werden dürfen, die auch die Polizei theoretisch hätte.
Zur Änderung von dieser Rechtsprechung kamen nun beide Senat zusammen, also insgesamt 16 Richter. Davon haben sich 15 Richter für die neue Linie entschieden, einzig ein Richter sah dies anders.
Was sind die Argumente der 15 Befürworter?
Vormals wurde sich auf den Wortlaut berufen. So sagt Art. 35 II GG „zur Unterstützung seiner Polizei anfordern“ und Art. 35 III GG „zur Hilfe“ berufen, was bedeuten soll, dass die Bundeswehr nur eine helfende Hand der Polizei sei und auch nur deren Mittel einsetzen dürfe. Davon abgesehen, dass „Unterstützen“ und „Helfen“ nicht zwingend bedeuten muss, dass man nur die Sachen einsetzen muss (Wenn mein Nachbar mit nem Smart umzieht und ich ihm mit meinem VW Bus helfe, darf ich ja auch mehr einladen als in den Smart passt), spricht auch der Art. 87a III GG gegen diese Auslegung. Dort steht nämlich ebenfalls “ zur Unterstützung der Polizei“ und dort sind eindeutig auch militärische Mittel gemeint, denn sie sollen zur „Bekämpfung […] militärisch bewaffneter Aufständischer“ eingesetzt werden. Das werden sie kaum mit Sandsäcken tun können.
Auch die Entstehungsgeschichte des Art. 35 II GG klärt die Frage nicht eindeutig, ob der damalige Grundgesetzgeber eine Beschränkung haben wollte. Dagegen spricht, dass der Regierungsentwurf damals vorsah, dass drin stehen sollte, dass die Streitkräfte „als Polizeikräfte“ eingesetzt werden sollen. Dies hielt der Gesetzgeber damals für zu eng und formuliert um in „zur Unterstützung der Polizei“. Ferner wurde bei der Entstehung des Art. 35 II GG auch einige Szenarien durchgespielt, die militärische Mittel zwingend benötigen. So wurde bei der Beratung zum Beispiel auch die Sprengung von Häusern und Brücken ins Auge gezogen.
Somit stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass es nicht zwingend ist, dass die Bundeswehr keine militärischen Mittel nutzen darf. Viel mehr ist das Grundgesetz hierzu grundsätzlich offen. Wann dieser Einsatz gerechtfertigt sein könnte, stellt das Bunderverfassungsgericht eher durch eine Negativdefinition fest. So muss vor allem der Sinn von Art. 87a GG beachtet werden. Dieser sieht ein Vorgehen durch das Militär mit Gewalt gegen demonstrierende (bewaffnete) Menschenmengen nur vor bei „einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes“. Diese Einschränkung darf durch Art. 35 GG nicht umgangen werden.
Ferner stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass sich aus dem Wortlaut des Art. 35 II und III GG ergibt, dass die Katastrophe schon eingetreten sein muss (nicht aber unbedingt schon die Schäden). Das Militär darf also nicht bei einer drohenden Katastrophe eingesetzt werden. Daher darf auch im Luftraum die Mittel der Streitkräfte nicht bei jedem Zwischenfall eingesetzt werden, sondern nur in Ausnahmefällen. Hier darf dann aber kein Flugzeug abgeschossen werden (Das wäre ein völlig anderes Thema), sondern es geht mehr darum dass man zum Beispiel mit einem Kampfjet einem Piloten hilft der die Orientierung verloren hat.
So das ist die „neue“ Ansicht des Bundesverfassungsgericht und die Argumente klingen für mich juristisch (und auch menschlich) überzeugend. Gleichzeitig gibt es hier aber natürlich auch ein Gefahrenpotential, dies zeigt Richter Gaier auf, der als einziger anders gestimmt hat. Die Argumente will ich euch nicht vorenthalten.
Gaier sieht vor allem die Geschichte des Landes als Zeichen, dass der Grundgesetzgeber keinen Einsatz militärischer Mittel haben wollte. Die Trennung von Militär und Polizei sei eng mit der BRD verbunden und sollte nie aufgekündigt werden. Ebenfalls führt er an, dass die große Koalition nach dem 11. September 2001 mit dem Versuch gescheitert ist, dass ausdrücklich militärische Mittel eingesetzt werden dürften. Hier übersieht Gaier aber meiner Meinung nach einen entscheidenden Punkt: Nur weil der Gesetzgeber 2008 keine Mehrheit dafür hatte, heißt es nicht, dass er bei der Einführung der Art. 35 II und III GG nicht eine Mehrheit dafür hatte und es genauso gewollt hätte. Trotzdem hat Gaier natürlich recht, dass ein übler Nachgeschmack bleibt, wenn der Gesetzgeber diese „Neuregelung“ ablehnt und das Bundesverfassungsgericht sagt „Das muss gar nicht neu geregelt werden, das ist schon so geregelt“. Hier verschwimmt aber nicht Legislative und Judikative, denn nur weil ein aktueller Gesetzgeber ein momentane Gesetzeslage ablehnt, heißt es nicht, dass sie nicht mehr so ist. Hat der Gesetzgeber damit ein Problem, so muss er das Gesetz ändern. So auch in diesem Fall: Dem Gesetzgeber steht es frei das Grundgesetz dahingehend zu ändern, dass Art. 35 II und III GG nicht den Einsatz mit militärischen Mitteln erlaubt. Dies muss aber der Gesetzgeber selbst machen und nicht die Judikative, denn die Trennung der Gewalten muss auch in dieser Richtung beachtet werden.
Ebenfalls führt Gaier an, dass der damalige Grundgesetzgeber mehrfach davon ausging, dass militärische Mittel nur im Falle des Art. 87a GG genutzt werden dürfe. Unter der Überschrift „innerer Notstand“ schrieb der Rechtsausschuss damals nämlich:
„Der Hauptunterschied zur Regierungsvorlage liegt darin, dass die Schwelle für den Einsatz der Streitkräfte als bewaffnete Macht angehoben worden ist. Der Rechtsausschuss schlägt vor, den bewaffneten Einsatz der Bundeswehr nur dann zuzulassen, wenn dies zur Bekämpfung von Gruppen militärisch bewaffneter Aufständischer erforderlich ist (Artikel 87a Abs. 4).“
Gaier liest aus diesem Satz, dass ausschließlich dort der bewaffnete Einsatz der Bundeswehr zulässig sein soll, vor allem da der ursprüngliche Regierungsentwurf unter „inneren Notstand“ auch die Naturkatastrophen verstand. Die Mehrheit der Richter sieht dies aber nicht so eindeutig .Viel mehr könne man den Satz auch dahingehend verstehen, dass damit nur der Kampf gegen Aufständische gemeint war und man damals damit nur verhindern wollte, dass Art. 35 GG genutzt wird um die strengen Anforderungen des Art. 87a GG zu umgehen. Damit würde sich nämlich ergeben, dass der Rechtsausschuss damals sehr wohl den Einsatz militärischer Mittel berücksichtigt hatte.
Weiter führt Gaier mehrere Quellen an, in denen Beteiligte nachträglich die Regelung des Art. 35 II und III GG dahingehend verstehen wollen, dass es sich um unbewaffnete Hilfe handelt. Das mag tatsächlich so sein, aber erstens mag eine nachträgliche Interpretation der an der Gesetzgebung Beteiligten ein Indiz sein, jedoch haben diese Person nicht das alleinige Interpretationsrecht. Außerdem hat das BVerfG ja nur festgestellt, dass es unklar ist und es anscheinend unter den Beteiligten verschiedene Ansichten zum Thema gab.
Als letztes erwähnt Gaier noch, dass die Regierung nur als Kollektiv, also gemeinschaftlich, entscheiden darf. Das heißt, dass die Entscheidungsfindung länger dauert und man nicht so effizient reagieren kann, als wenn jemand alleine die Entscheidungsmacht hätte. Daher dürfe darunter kein Einsatz von Kriegswaffen fallen, da diese nur dann genutzt werden dürften, wenn man effizient und kurzfristig reagieren kann. Hier mag Gaier im Prinzip recht haben, trotzdem finde ich das Argument schwach. Zum Beispiel beim Ausrufen des Notstandes, was ebenfalls viele Sonderrechte in Gang setzt, ist auch eine höchst ineffziente Prozedur vorgesehen. Das kann also eher weniger überzeugen.
So sehr ich auch die politischen Motive von Gaier verstehen mag und er vermutlich mit seinen Argumenten auch recht hat, so finde ich es juristisch aber reichlich dünn. Ohne das historische Gesetzesmaterial nun selbst ausgewertet zu haben, scheint es mir nicht so eindeutig zu sein, wie Gaier es gerne hätte. Viel mehr geht eine Argumentation in beiden Richtungen und damit ist dem Bundesverfassungsgericht grundsätzlich zu folgen. Möchte die Gesetzgebung dies so nicht haben, so müssen sie das Grundgesetz ändern.