Es ist obskur zu was für reißerischen Sätzen sich in den letzten Tage manche Menschen in Talkshows hinreißen lassen haben. Teilweise zeigen sie ihre komplette Unwissenheit bereits im gleichen Satz, in dem sie sich die Antwort, warum ihre Aussage sinnfrei ist, selbst geben. Das erste Problem ist aber schon, dass die Schwester eines Opfers eingeladen wurde. Warum? Ist die Schwester eines Opfers zwei Wochen nach der Tat wirklich ein kompetenter Gesprächspartner über Jugendgewalt?
Jugendgewalt ist etwas was die Gesellschaft grundsätzlich hinnehmen muss. Schon die Ausgangsprämisse, dass solche Taten verhindert werden müssen, ist in dieser Absolutheit einfach unsinnig. Es ist ein allgemeines Lebensrisiko einer freien Gesellschaft, dass man auf offener Straße totgeschlagen wird. Die allgemeine Handlungsfreiheit, die für eine freie Gesellschaft die Grundlage bildet, ermöglicht es, dass man jederzeit auf der Straße jemanden umbringen kann. Jegliche Beschränkungen der allgemeinen Handlungsfreiheiten bezüglich solcher Taten greifen erst nachträglich. Solange dieses grundsätzlich möglich ist, wird es auch solche Taten geben. Somit kann das Ziel lediglich eine Reduzierung der Jugendgewalt sein. Und das ist schon einmal eine ganz wichtige Erkenntnis: Jugendkriminalität ist normal. Die Forderung nach mehr Polizei, mehr Kameras und härteren Strafen kann somit nicht alleine damit begründet werden, dass es Jugendkriminalität „noch“ gibt.
Etwas sehr erschreckendes sagte zum Beispiel Schauspieler Christian Berkel bei Illner. Er behauptet es gäbe einen Vertrag zwischen Staat und Bürger, dass der Bürger keine Rache nehmen dürfte. Darauf hätte der Staat ein Monopol. Man hofft einfach er hat sich einfach unglücklich ausgedrückt. Strafe kann natürlich einen gewissen Buß-Faktor haben, aber staatliche Strafe in Deutschland ist niemals Rache. Rache betrachtet nur das Unrecht einer Tat, niemals die Schuld (Unrecht begeht auch das unmündige Kind, der psychisch Kranke und derjenige der im Notstand nach § 36 StGB handelt). Darüber hinaus basiert das moderne Strafrecht in Deutschland zum großen Teil auf der relativen Straftheorie. Es geht also nicht darum primär Genugtuung zu erlangen, sondern darum zukünftige Taten zu verhindern.
Noch wichtiger ist aber, dass das Jugendstrafrecht in Deutschland einen ganz anderen Auftrag hat. Jugendstrafrecht soll in erster Linie nicht strafen, sondern den Jugendlichen erziehen. Hier ist wieder die Erkenntnis von oben wichtig: Jugendkriminalität ist normal. Nahezu jeder Mensch begeht in seinem Leben eine gewisse Jugendkriminalität. Meist sind es harmlose Taten, manchesmal aber auch schwerere. Oft sind es sogar Taten, die nur durch „Glück“ oder „Pech“ nicht schlimm enden. Wer als jugendlicher Nachts ohne Führerschein über ne rote Ampel gefahren ist, hat einfach Glück gehabt, dass er keinen totgefahren hat. Wenn nun jemand das Glück nicht hat, soll er dann sein ganzes restliches Leben dafür büßen? Das Problem besteht übrigens auch im Erwachsenenstrafrecht, aber bei Jugendlichen kommt ja noch die typische Unreife dazu.
Jugendliche sind zum großen Teil noch formbar und eine schwere Strafe würde auf langer Sicht mehr Schaden anrichten, als erzieherische Weisungen. Oder kurz gesagt: Der Täter soll lieber noch drei mal ein Auto aufbrechen und dann zur Besinnung kommen, als dass er eine dauerhafte kriminelle Kariere plant. Daher muss die Sühne und der Schutz der Allgemeinheit hier zurückstecken. Dies endet erst an dem Punkt, an dem wirklich eine schädliche Neigung angenommen wird. Wichtig ist aber auch hier zu verstehen, dass es nicht alleine um die schwere der Tat geht. Es geht darum, ob damit zu rechnen ist, dass der Täter auch zukünftig schwere Kriminalität begehen wird. Somit kann selbst nach einem Totschlag oder Mord theoretisch die schädliche Neigung fehlen.
Darüber hinaus wird in der Gesellschaft oft unterschätzt, wie nervig für die Jugendlichen Auflagen wie regelmäßige Betreuung oder Arbeitsleistungen sind. Wenn man einem Jugendliche 10 Nachmittage Freizeit raubt, dann ist das schon extrem nervig. Auch die Auflage sich einmal die Woche von der Jugendgerichtshilfe berieseln zu lassen, kann für solche Leute unheimlich nervend sein. Daher ist es auch für mittelschwere Kriminalität oft ausreichend und die bessere Strafe als irgendein Arrest oder gar Jugendstrafe. Man muss sich einfach bewusst sein, dass wenn man einen Jugendlichen zu einer Jugendstrafe verurteilt, ihn quasi aufgegeben hat. Das kann nicht im Sinne der Gesellschaft sein. Denn dann kann ein Intensivtäter vielleicht in den 1-2 Jahren keinen Schaden anrichten, aber dann passiert die Tat einfach anschließend. Das ist der Grund, warum auch Jugendliche mit 10 oder 20 leichter bis mittelschwerer Kriminalität noch auf der Straße rumlaufen.
Der nächste Punkt ist die Untersuchungshaft. Auch hier zeigen Talkshowgäste durch die Bank eine völlig ferne Vorstellung der Untersuchungshaft. Die Untersuchungshaft ist keine „Strafe“. Die U-Haft hat primär die Aufgabe sicherzustellen, dass die Beschuldigten auch zum Prozess kommen und nicht türmen. Wenn sich mutmaßliche Täter selbst der Polizei stellen, dann spricht dies meist schon gegen eine Fluchtgefahr. Auch wenn ein Beschuldigter bisher immer zu seinen Verfahren gekommen ist, kann es gegen eine Fluchtgefahr sprechen. Die reine schwere der Tat ist dagegen kein Grund für die Untersuchungshaft. Natürlich spielt eine mögliche Wiederholungsgefahr und die zu erwartende Strafe eine Rolle. Aber ein mutmaßlicher Mörder bei dem weder eine Flucht- noch eine Wiederholungsgefahr besteht, ist nicht in Untersuchungshaft zu nehmen. Seiner gerechten Strafe wird er gegebenenfalls nach dem Urteil antreten (Auch hier wird er in der Regel nicht im Saal weg verhaftet, sondern kriegt eine Ladung, dass er sich bis zu einem bestimmten Zeitpunkt bei der Haftanstalt einfinden muss).
Bei Anne Will sagte die Schwester folgende zwei Sätze: „Ich kann es nicht verstehen, dass die mutmaßlichen Täter draußen spazieren dürfen“ und sie fordert eine „vernünftige Strafe, denn eine gerechte Strafe kann es für diese Tat gar nicht geben.“
Komischerweise hat sie im ersten Satz treffenderweise von mutmaßlichen Tätern gesprochen. Denn nach aktuellem Erkenntnisstand ist einer der freigelassenen „Täter“ gar kein „Täter“, sondern er war lediglich in der Rangelei mit einem anderen verwickelt. Das erklärt auch warum er draußen spazieren darf. Im zweiten Satz fordert sie dann aber eine vernünftige Strafe? Für den Täter der mit der Tat nichts direkt zu tun hat?
Insgesamt ist es aber generell nicht sinnvoll mit Opfern über mögliche Strafen zu sprechen. Denn wessen Auto zerkratzt wurde, würde den Täter wohl am liebsten auch ne ordentliche tracht Prügel verabreichen. Wem das Autoradio gestohlen wurde, wäre vermutlich sogar für das abhacken der Hand. Das macht die Strafen aber nicht gerecht. Und zum Abschluss: Das gebetsmühlenartige herunterrattern von „Es kümmern sich alle nur um die Täter und nicht um die Opfer“ ist auch so ein fürchterlicher Dummschnack. Die Menschen merken nicht einmal, dass sie damit ein komplett anderes Thema öffnen. Es ist nicht Aufgabe der Strafjustiz sich um die Opfer zu kümmern, die Strafjustiz ist primär für den Täter und seine Aburteilung verantwortlich. Darüber hinaus sollte verhindert werden, dass der Täter nicht erneut zum Täter wird. Die Therapierung des Opfers kann im Strafprozess tatsächlich berücksichtigt werden (Recht auf Nebenklage, Anregen von Täter-Opfer-Ausgleich, dem „Monster“ im Prozess ein Gesicht geben etc.), jedoch ist es nicht die primäre Aufgabe. Das Behandeln der Opfer ist Aufgabe von anderen Teilen der Gesellschaft, zum Beispiel von den Krankenkassen. Es ist auch kein Entweder-Oder. Nur weil ein Täter im Gefängnis eine Therapie bekommt (was viel zu selten geschieht), heißt es nicht, dass ein Opfer draußen keine Therapie bekommen kann. Es sind unterschiedliche Systeme und unterschiedliche Probleme. Wenn es tatsächlich so sein sollte, dass Opfer in Deutschland alleine gelassen werden, dann kann das Problem ganz unabhängig von der Bestrafung oder Therapie des Täters erfolgen.